Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.
Manchmal reicht ein Bild oder eine Erinnerung, und mitten im Sommer wird der Winter lebendig. Und umgekehrt. Oft verbunden mit einer Prise Längizyti. Jedenfalls ist es ein heisser Sommertag, als der Briefträgerin plötzlich ein eisiger Winterabend in den Sinn kommt: Sechs Uhr vielleicht war es da gewesen und sie irgendwo in der Stadt unterwegs. Längst lag Dunkelheit über allem. Da stiess sie auf einen alten, lange nicht gesehenen Bekannten, der auf einer kleinen Mauer sass.
ZAUBERSTAB. «Was tust du denn hier?» fragte die Briefträgerin. «Ich warte auf die Person, die den Briefkasten leert», antwortete der Bekannte und zeigte auf den gelben Kasten neben sich, der in der Postsprache Briefeinwurf heisst. Die Briefträgerin erfuhr, dass der Bekannte drei Briefe geschrieben und eingeworfen hatte, was er nun bereute. Abrechnungen mit der Mutter und den zwei Brüdern. «Ich glaube, vor allem der Brief an die Mutter ist zu happig», sagte der Bekannte. «Ich sollte ihn besser nicht schicken. Sie sollte ihn besser nicht erhalten.» Die Briefträgerin verkniff sich das Lachen nicht. Und sie dachte an den Zauberstab, der zu Hause am Postschlüsselbund hing. Der Schlüssel, mit dem sich alle Briefeinwürfe im Gebiet ihrer Zustellstelle öffnen lassen würden. Der kleine Schlüssel früher, der noch aussah, wie Schlüssel in alten Geschichten aussehen, hatte sogar in alle Briefeinwurfschlösser der Schweiz gepasst. «Sesam öffne dich!», und alle Geheimnisse kämen ans Licht. Die Rechnungen, die Werbesendungen, die Geburtsanzeigen, die Liebesbriefe, die Todesanzeigen, die Abrechnungen.
Die Pöstlerin dachte an den Zauberstab, der zu Hause am Postschlüsselbund hing.
POSTLEERUNG. Doch obwohl dem Postgeheimnis unterstellt, dürfte sie vermutlich keine andern Kästen öffnen als diejenigen, die zu leeren sie verpflichtet ist. Wenn die Briefträgerin auf ihren Touren die Briefeinwürfe leert, schaut sie kaum hin, was sie in Empfang nimmt. Zu viele Sendungen oder keine Zeit. Einen Brief zurückgeben darf sie nur gegen Vorzeigen eines Ausweises und Beschreibung der Sendung. Die beiden plauderten noch eine Weile, dann ging die Briefträgerin weiter, und der Bekannte blieb auf der Mauer sitzen.
Es war längst Frühling, als sie einander wieder begegneten. «Übrigens», sagte der Bekannte, «die Briefe konnte ich damals nicht zurückhalten. Der Pöstler kam, doch waren sie nicht mehr im Kasten. Sie waren wohl bei einer früheren Leerung mitgenommen worden.» «Und?» erkundigte sich die Briefträgerin interessiert. «Meine Mutter hat den Brief mit Fassung zur Kenntnis genommen», erzählte der Bekannte. «Die Brüder aber, die habe ich noch immer nicht da, wo ich sie haben will.»